‘Teilmobilisierung’ und Demokratie

Hat die „Teilmobilisierung“ der russischen parlamentarischen Regierungsstruktur und der breiteren Gesellschaft eine reinrassige Demokratie eingehaucht?

Es ist normal, dass man davon ausgeht, dass Kriegszeiten eine Periode von verschärfter Zensur und immer stärkerer Kontrolle über die Gesellschaft insgesamt sind. In der Tat haben westliche Journalisten ihre Aufmerksamkeit auf die Schließung verschiedener notorisch als anti-Putin bekannter Rundfunkanstalten und Printmedien in Russland einschließlich Rain (Dozhd´) und Novaya Gazeta gerichtet. Sie haben über die Flucht von Herausgebern und Mitarbeitern ins Ausland berichtet, nachdem diese als „ausländische Agenten“ bezeichnet worden sind und erwarten konnten, dass sie gerichtliche Vorladungen bekommen würden.

Allerdings ist es für jeden objektiven außenstehenden Beobachter zunehmend klar, dass in den Tagen seit der „Teilmobilisierung“ der Reservisten ein sehr starker sozialer Aktivismus entsteht und dass der Damm der staatlichen Kontrolle gegenüber der freien Meinungsäußerung beiseite gefegt wird. Vor einer Woche, nachdem die Niederlagen auf dem Schlachtfeld und der Verlust von Territorien an den Feind nicht ignoriert werden konnten, haben Mitglieder der Staatsduma offen das Verteidigungsministerium dafür verurteilt, „Märchen“ über den Fortschritt der Kriegsereignisse in der Ukraine zu erzählen und Transparenz in der Kommunikation gegenüber der Öffentlichkeit herzustellen. Der Sprecher der Duma, Volodin, der der Führer der herrschenden Partei Einiges Russland ist, muss schockiert gewesen sein.

Inzwischen sehen wir im staatlichen Fernsehen Berichten Nachrichten über die landesweite Bildung von privaten Komitees zur Sammlung von Geldern für die Beschaffung von Gütern und die Verteilung von Bekleidung und andere Ausrüstungsgegenstände an die neuen Rekruten, die die Armee ihnen nicht zur Verfügung stellt, wenn sie sie an die Front schickt. Das wird als patriotische Unterstützung durch die russische Gesellschaft hingestellt, aber ein genauerer Blick zeigt, dass es eine scharfe Kritik an der Inkompetenz der Machthaber ist, die die Bürger ohne die notwendige Ausrüstung in den Krieg schicken.

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In den Vereinigten Staaten und in einem etwas geringeren Umfang wird die eskalierende Konfrontation zwischen Russland und der NATO in und über die Ukraine als eine Wiederholung der Akteure und Prinzipien dargestellt, die dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zugrunde lagen. Putin ist der heutige Hitler und die westlichen Führer müssen die demokratischen Institutionen gegen autoritäre Regime verteidigen, die sich aggressiv gegen Nachbarn verhalten.

In Russland wird die eskalierende Konfrontation ganz anders gesehen, nämlich als eine Wiederholung des Ersten Weltkrieges, als die Führer der Großmächte „schlafwandlerisch“ in die größte Tragödie aller Zeiten getaumelt sind, ohne den Abgrund vor sich zu sehen. Wenn sich der Kreml nicht vorsieht, könnte an der Heimatfront eine ähnliche Situation hinsichtlich des Beginns – und wichtiger hinsichtlich des Endes – des Ersten Weltkrieges entstehen. Jener Krieg endete für das zaristische Regime nicht gut und zu einem beträchtlichen Teil wurde es genau von der patriotischen Gesellschaft gestürzt.

Die derzeitigen Bilder im russischen Fernsehen von der Abreise der Reservisten in Provinzstädten mit Busladungen von Reservisten, die an jubelnden Bürgern mit kleinen Fahnen und Blumensträußen vorüberfahren, erinnern in unheimlicher Weise an alte Bilder aus der Zeit des Ausbruchs des Großen Vaterländischen Krieges. Die patriotischen Organisationen, die 1914 von örtlichen Politikern zur Förderung der Kriegsanstrengungen geschaffen worden waren, wurden mit der Zeit zu Brutstätten der offenen Kritik an den Armeeführern und der zaristischen Dynastie, die zu der Februar Revolution führten und die Abdankung von Nicholaus II erzwangen. Die Eliten im Kreml haben ein sehr gutes Gedächtnis und sind mit Sicherheit besorgt.

Warum sehen wir heute eine öffentliche Darstellung eines solchen zivilen Aktivismus? Was ist mit der passiven russischen Öffentlichkeit passiert? Die ein-Wort-Antwort ist Mobilisierung. Als Sergey Miheev, ein Diskussionsteilnehmer letzte Nacht in der Talk-Show von Vladimir Solovyov, erklärt hat, hat die Mobilisierung die bisherige eingeschränkte Militäraktion, die von Berufssoldaten durchgeführt wurde, in einen „Volks“krieg verwandelt und die Menschen wollen jetzt mitreden darüber, wie er geführt wird.

Das ist eine grundlegende Veränderung in der russischen Innenpolitik. Aber das war zu erwarten und die Schnelligkeit dieser Reaktion ist auch genau der Grund, warum der Kreml diese Mobilisierung, so lange er konnte, hinausgezögert hat.

Vor etwas weniger als einem Jahr habe ich einen Essay über die Passivität der russischen Steuerzahler veröffentlicht mit der pikanten Überschrift „keine Vertretung ohne Besteuerung“, die den Schlachtruf der amerikanischen Revolutionäre gegen die kolonialistischen Herren in England auf den Kopf gestellt hat. (Anm. des Übersetzers: damals „no taxation without representation“ – vgl. Boston Tea Party) – https://gilbertdoctorow.com/2021/11/03/no-representation-without-taxation/

Aus einer ganzen Reihe von Gründen stammt der Löwenanteil des russischen Staatsbudgets aus den Exportzöllen auf Gas und Öl und nur ein relativ geringer Anteil kommt von den Steuern der durchschnittlichen Bürger: die Einkommensteuer beträgt pauschal 15% und Eigentumsteuer auf Häuser und Apartments sind fast bei null, während die Regierung der breiten Bevölkerung freie staatliche medizinische Versorgung und freie Bildung zur Verfügung stellt. Aber wenn der russische Bürger ein direktes Interesse am Spiel hat, wie dies jetzt bei der Mobilisierung von Ehemännern und Vätern der Fall ist, kann diese passive Bürgerschaft sehr emotional und aktiv und stimmgewaltig werden.

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Die gestrige abendliche Talk-Show von Vladimir Solovyov war ein ausgezeichnetes Abbild exakt derjenigen Gedanken, die man andernfalls in den Heimen der Menschen hört, wenn sie sich in ihren Küchen mit ihren Verwandten und engen Freunden unterhalten. Da waren einige beachtenswerte Diskussionsteilnehmer, aber der umfassende Betrag stammte von Sergey Mikheev, den ich oben schon kurz zitiert habe. Er erhielt das Mikrophon für etwas mehr als zehn Minuten, wurde nicht unterbrochen, wie dies bei diesen Talk-Shows üblich ist, und hielt eine ergreifende programmatische Rede, die, wenn man sie untersucht, in schwerwiegender Weise kritisch nicht gegenüber den Generälen hinsichtlich ihrer unprofessionellen Handhabung der Kriegshandlungen, sondern gegenüber der politischen Führung war, direkt bis hin zu Vladimir Putin hinsichtlich des zutiefst verfehlten Konzepts darüber, wie der Krieg geführt werden sollte.

Die Mobilisierung ist nach Mikheev nurmehr eine Verlängerung oder Eskalation der verfehlten bisherigen Politik, nämlich des Versuchs, einen Artillerie- und Infanteriekrieg zu führen, bei dem Fortschritt in der Zerstörung ukrainischen Militärmaterials gemessen wird, anstatt einen totalen Krieg mit dem Schwerpunkt, die gesamte ukrainische Stromversorgung, Logistik und andere Infrastruktur zu zerstören, um die ukrainische Bevölkerung zu demoralisieren und die Armee ihrer Mittel zur Fortsetzung der Kämpfe zu berauben.

Mikheev sagte seinen Gegnern in Kreml, sie argumentierten damit, dass sie der Meinung seien, ihre Vorgehensweise sei humaner, dass Russland nicht die Absicht habe, die breite ukrainische Bevölkerung im Winter ohne Wärme oder Strom dastehen zu lassen oder unnötige zivile Tote bei seinen Raketenangriffen zu verursachen. Er bestand aber darauf, der humanere Weg wäre gewesen, der Ukraine bereits im März und April massive Schmerzen zuzufügen, um den Konflikt zu einem schnellen Ende zu bringen. Die Eskalation mit Babyschritten verlängere lediglich den Krieg und vergrößere das Risiko eines nuklearen Armageddon.

Mikheev sagte, wegen der Gebietsverluste während der kürzlichen ukrainischen Gegenoffensiven würden sich die Bürger an den Köpfen kratzen. Warum nutzt Russland die technologische Überlegenheit ihrer Waffen nicht zu seinem größtmöglichen Vorteil? Warum vergrößert es stattdessen nur die Zahlen der Frontsoldaten, als ob dies ein Krieg im 20. Jahrhundert und nicht eines im 21. Jahrhundert wäre?

Die Zweifel hinsichtlich der Art und Weise, wie der Krieg geführt wird, führen bei durchschnittlichen Russen dazu, dass sie das Vertrauen in ihre Führung verlieren und nach versteckten Verrätern suchen. Die Menschen fragen, ob die Oligarchen die Kriegsführung beeinflussen, um ihre eigenen Interessen zu schützen. In einem existenziell zu bezeichnenden Konflikt ist kein Raum für private Interessen, sagt Mikheev. Wie kann es sein, dass einem mit Sprengstoff beladenen Lastwagen die Zufahrt zu der Brücke erlaubt wurde, bei der angeblich die strengsten Sicherheitsvorschriften galten? Die Menschen denken, dass jemand geschmiert wurde, um das Fahrzeug ohne Untersuchung durchzulassen. Derartige zersetzende Gedanken können nur eine Änderung der Kriegsführung reduziert werden.

Eine noch vernichtendere Stellungnahme als diejenige, die Sergey Mikheev in der Livesendung der Solovyov Show präsentieren durfte, ist kaum vorstellbar. All die Berichte unserer Zeitungen über heimliche Botschaften an Putin aus Kreml-Kreisen verblassen im Vergleich dazu in ihrer Bedeutung.

Ein weiterer bemerkenswerter Diskussionsteilnehmer in der gestrigen abendlichen Show war  der Generaldirektor von Mosfilm, Karen Shakhnazarov, der, wie Mikheev, ein regelmäßiger Besucher in diesem Programm. Shakhnazarov hatte zwei Punkte beizutragen, einen kleineren und strikt professionellen aus seinem Bereich, der Welt des Entertainment, und einen anderen wichtigeren und mehr repräsentativeren über das Denken in Russlands „kreativen Schichten“. Der weniger wichtige Punkt betraf das heutige Fehlen eines umfassenden patriotischen Managements bezüglich der Kriegsanstrengungen. Bei allem Respekt für die Meisterschaft ausländischer Filmdirektoren und Produktionsfirmen, wie kann es sein, fragte er, dass unsere Fernsehstationen, einschließlich die privaten Station NTV, dieser Tage Rambo-Filme zeigen? Solche Erwachsenenfilme über amerikanischen Wagemut könnten und sollten zurückgehalten werden, bis dieser Krieg zu Ende ist.

Der wichtigere Punkt von Shakhnazarov war, dass es ein Fehler von Russland gewesen sei, den kürzlichen Vorschlag von Elon Musk für die Beendigung des Krieges nicht aufgegriffen zu haben. Dies sei eine vergebene Public Relations Gelegenheit im Informationskrieg mit erheblichem möglichem Wert gewesen. Ja, Russland akzeptiert bestimmte Punkte in diesem Vorschlag nicht, insbesondere nicht hinsichtlich erneuter Referenden in den vier neu beigetretenen Provinzen. Aber es hätte Russland sehr genützt zu sagen: „Ja, der Plan ist prüfenswert, und wir sind bereit, `im Bemühen um Frieden diese zusätzliche Meile zu gehen`, als Zelensky den Musk-Plan unmissverständlich zurückgewiesen hatte. Shakhnazarov sagte, Musk hat über zehn Millionen Follower und sie hätten für Russlands Sache gewonnen werden können, wenn der Kreml ein bedingtes `ja` zu dem Plan gesagt hätte.

Zum Schluss mache ich noch auf die Bemerkungen eines Geheimdienstoffiziers im Ruhestand, Held der Russischen Föderation, aufmerksam, der höchst relevante Erklärungen dazu, dass die Russen bei ihren gestrigen Raketenangriffen auf Städte überall in der Ukraine als Vergeltung auf den Bombenanschlag auf die Krim-Brücke angeblich auch auf ausschließlich zivile Ziele wie Kinderspielplätze und Opernhäuser schießen. Wie er feststellte, haben die ukrainischen Behörden behauptet, dass die Russen an dem Tag 72 Raketen abgefeuert haben, von denen 42 angebliche von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossen worden seien. Inzwischen haben die russischen Behörden nichts von irgendwelchen Verlusten an ihren Raketen gesagt, sondern nur mitgeteilt, dass alle Ziele auf ihrer Liste zerstört worden seien.

Nehmen wir einmal an, sagte dieser General, dass die ukrainischen Zahlen übertrieben waren und dass sie nicht 42, sondern nur 21 unserer Raketen abgeschossen haben. Das würde die Verlustrate in die übliche Quote solcher Verluste bringen, vorausgesetzt, die Ukraine verfügt noch über eine wirksame Raketenabwehr in Kiew und sonst wo, die in den vergangenen Wochen mit von NATO-Ländern gelieferten Systemen verbessert worden sind. „Abgeschossen“ ist ein irreführender Begriff: üblicherweise bedeutet dies nicht die völlige Zerstörung, sondern die Zerlegung der anfliegenden Raketen in Bruchstücke, die Sprengstoff enthalten und herunterfallen, wo immer die Schwerkraft sie hinfallen lässt. Entsprechend ist es selbstverständlich möglich, dass Bruchstücke solcher russischen Raketen tatsächlich in zivilen Wohngebieten landen mit entsprechenden Verlusten an Menschenleben. Obwohl der General das nicht erwähnt hat, exakt dieses selbe Scenario ereignete sich in Donetsk und in anderen Städten in den aufrührerischen Provinzen, als sie durch die ukrainischen Tochka-M Raketen in der ersten Zeit des Krieges unter Feuer gerieten. Die Raketen wurden von der russischen Raketenabwehr abgefangen, aber die Fragmente landeten in den Straßen der Städte und verursachten signifikante Verluste an Menschenleben und Schäden an der Infrastruktur.

Schließlich hatte dieser Militärgeheimdienstexperte noch einige interessante und möglicherweise wertvolle Worte zu sagen über den neu ernannten Befehlshaber der militärischen Operationen in der Ukraine, General Sergei Surovikin, den er mehrfach in der Vergangenheit getroffen hat und den er sehr respektiert. Surovikin hat diese Position erhalten, nachdem er zuvor Chef der Luftwaffe war, was an sich schon eine ungewöhnliche Karriere für einen Offizier, der seine grundlegende Ausbildung und seine Erfahrung als Kommandeur von Bodentruppen erhalten hat. Mit seiner Ernennung dürften wir eine bessere Koordination und Nutzung der beiden verschiedenen Zweigen des Militärs, die in westlichen Expertenkreisen wegen des Fehlens der Effektivität kritisiert wurden. Was das zeitliche Zusammentreffen dieser Ernennung und die gestrige Verschärfung der russischen Raketenangriffe auf ukrainische Städte angeht, hält der General fest, dass der neue Chef nicht von einem Tag auf den nächsten gleich alle Aspekte einer laufenden komplexen militärischen Operation meistern kann, sodass Surovikin nicht der Urheber dieser Raketenangriffe sein kann.

Aufgrund meiner Erfahrung als Historiker und Forscher in russischen Regierungsarchiven aus der Zarenzeit habe ich eine Lektion gelernt, die auch für heute gilt: in Regierungsämtern sitzen immer kompetente und hocherfahrene Beamte, die Gesetze oder Verordnungen entwerfen, die still in ihren Schreibtischen liegen, die dann aber innerhalb von Stunden zur Regierungspolitik werden können, wenn Kräfte außerhalb der Bürokratie eine Änderung erzwingen. Ich glaube, das ist genau das, was passiert ist im Hinblick auf die kürzlichen massiven Angriffe auf die Ukraine.

Damit lege ich meinen Schwerpunkt zu der vorstehenden Zusammenfassung der Solovyov-Show vom 10. Oktober 2022 dar: das russische Staatsfernsehen ist essentielles Quellenmaterial für jeden, der diesen Krieg verstehen will und sehen will, wohin er führen könnte.

Translation into German by Andreas Mylaeus